Neulich im Piano-Salon

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Montagabend Sport. Dienstagabend Vorstandssitzung. Donnerstagabend Ortsgruppe. Und heute, am Mittwochabend ist das Konzert zu dem wir uns mit Freunden verabredet haben. Ich bin heute früh schon müde aufgestanden und es ist über den Tag nicht besser geworden. Ich habe meine Pause verdaddelt, weil ich zu k.o. war, um etwas Sinnvolles zu tun und jetzt würde ich mich am liebsten auf der Coach zusammenrollen.  Kopfhörer auf und tief in meine aktuelle Serie hineintauchen. Weg von meinem Leben, von dem „Anja kannst du mal …“ hier und dem „Ich müsste noch dringend …“ dort.

Aber R steht auf der Matte. Entspannt wie immer. Also suche ich eine Strumpfhose und tausche die Jeans gegen mein schwarzes Strickkleid. Irgendwie ist es kürzer geworden. Oder bin ich gewachsen? Wahrscheinlich habe ich nur vergessen, wie es aussieht, so lange wie es im Schrank hing. Stiefel an, Jacke, Handschuhe, Schlüssel, Geld und ab in die Kälte. Als wir auf die S-Bahn warten, verkrampft mein Magen. Vielleicht hätte ich auf den Teller Suppe verzichten sollen, den ich vorm Losgehen schnell noch hinuntergeschlungen habe.

Die S-Bahn kommt. Auf der Fahrt gleichen R und ich unsere Kalender ab. Freitag in die Sauna? Mal sehen. Berlin ist voll wie immer. Als wir mit der U-Bahn Richtung Wedding fahren, in unsere alte Heimat, werde ich wacher und schaue mir die Menschen an. Junge türkische Männer, die sich breitbeinig über die Sitze verteilen und sich über den ganzen Waggon hinweg anblaffen, um ihr Revier zu markieren. Eine junge Mutter mit einem Fünfjährigen, der auf Krawall gebürstet ist und seinen kleinen Bruder im Kinderwagen ärgert, bis er sich in einen Lego-Katalog vertieft. Schlagartig friedlich. Abgetaucht in fremde Welten. Der war bei meinem Sohn auch sehr beliebt, der Lego-Katalog. Die Mutter atmet auf. Löst ihren Zopf und lässt eine Wasserfall unglaublich toller hüftlanger schwarzer Haare frei. Streicht sie mit ihren Fingern glatt und bindet sie dann in einem hohen offenen Pferdeschwanz zusammen. Aus ihrer Jackentasche fischt sie ein Lipgloss. Ein schneller Blick in den Selfie-Modus. Sich vergewissern, dass sie auch noch da ist. Dann muss sie die Kinder einsammeln. Bloß nichts vergessen und raus aus der Bahn. Ich hoffe, dass sie sich selbst auch mitnehmen konnte.

Wir steigen eine Station später aus. Gehen vorbei an einem Barbershop, einem Spätkauf, einer Bäckerei mit glasierten Torten in allen Farben des Regenbogens. Vor uns laufen vier junge Frauen und schwingen die Hüften in den engen Jeans. Kurvige Sanduhren, die lachen und sich Bilder auf ihren Handys zeigen. Wir müssen aufpassen, dass wir ihnen nicht in die Hacken treten, bei ihrem stop-and-go. Eine unscheinbare Frau führt einen unscheinbaren Hund aus. Beide in beige und hellbraun. Mittwochabend. Alle sind auf dem Weg irgendwo hin. Die Schwedenstraße platzt vor Leben. Als wir in die Seitenstraße abbiegen, wird es ruhig. So ruhig, wie es in Berlin werden kann. Ein paar Bauarbeiter packen ihre Sachen zusammen und von irgendeinem Balkon jodelt einer. Jauchzt? Ein seltsames Schreien, fast ein Singen. Sehr schräg, aber voller Lebensfreude. Dann erreichen wir den Piano-Salon. Eine Halle in einem alten Fabrikgelände. Die Luft riecht nach Kunst und Chaos.

Am Eingang begrüßt uns eine freundliche Frau und verkauft Karten. Mindestens so alt wie wir. Jeans, Strickjacke, Brille. Die Getränke gibt es gratis dazu. Wir nehmen uns ein Glas, füllen Wasser aus einem Spender ein und einen Schluck Wein dazu.

Die Halle ist der Hammer. Die Fenster sind zwar mit Blasenfolie abgeklebt, aber sonst strotzt alles voll hölzerner Schönheit. Pedalständer, die aussehen wie historische Lauten, schön geschwungene Notenhalter. Pianoteile von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Sepiafarbene Fotos von Menschen in Abendkleidern und schwarzen Anzügen im Duo mit ihren Musikinstrumenten. Stehlampen mit gelben Seidenschirmen, Stuhlreihen mit roten Plüschkissen. Unsere Plätze sind in der dritten Reihe. Es liegen Namensschilder drauf. Als wären wir Stammgäste. Wir fühlen uns zugehörig. Auf einem einfachen Holzpodest stehen Flügel. Mindestens fünf oder sechs. Am vordersten sitzt ein Klavierstimmer mit flaschengrünem Samtjacket und einem kleinen Mozartzopf. Er klimpert vor sich hin. Dreht ein bisschen hier, ein bisschen dort. Es klingt fast wie ein Vorspiel. Er wirkt versunken. Es scheint nur ihn und den Ton zu geben, obwohl sich die Halle immer mehr füllt. Das Konzert soll in zehn Minuten beginnen. Ich stehe noch einmal auf und fülle unsere Gläser nach. Diesmal mehr Rotwein als Wasser. Es ist nicht mein Konzert. Es ist nicht mein Event. Der Klavierstimmer wird seinen Job schon machen. Ich entspanne mich und genieße den Raum, das Geklimper, den Wein. Die meisten in der Halle sind älter als ich. Klassische Konzerte sind eine aussterbende Spezies. Es ist nicht sehr voll. Dann packt der Klavierstimmer zusammen. Sanft schließt er den Deckel. Dreht den Klavierstuhl herunter und rückt ihn zurecht. Er ruckelt noch ein paar mal an ihm. Verstellt ihn, bis er die richtige Position hat und nicht mehr wackelt. Dann legt er die Noten neben den Ständer. Richtet die Kanten ordentlich aus. Liebevoll. Akkurat. Sammelt das Werkzeug in seine Schultertasche und verlässt die Bühne.

R winkte unseren Freunden. „Hallo, wie geht’s?“

„Schön, dass es endlich geklappt hat mit dem gemeinsamen Abend.“

Dann erscheinen die Musiker. Der Klarinettist richtet seine Klarinette ein. Der Klavierspieler rückt sich auf dem Schemel zu recht. Es scheint alles zu passen.

Wir verstummen. Die nette Frau vom Eingang tritt auf die Bühne. Schiebt ihre Lesebrille aus den Haaren auf die Nase und schaut auf einen vorbereiteten Zettel. Bei den Namen der beiden Künstler muss sie nachschauen. Bei den Namen der Stücke nicht. Sie wünscht uns viel Spaß. Vor allem bei ihrem Lieblingsstück nach der Pause.

Die Sonate von Poulenc ist nicht so gefällig, wie die Fantasien im ersten Teil des Konzerts, aber schnell begreife ich, warum die Frau sie uns ans Herz gelegt hat. Man muss die schrägen ersten Takte durchstehen, die hektischen, aufrüttelnden. Dann mischt sich das Klavier ein, ergänzt, rundet ab, wiederholt. Wie ein tanzendes Paar. Ich verstehe zu wenig von Musik, um diese Klänge erklären zu können. Ihre Struktur zu erkennen. Aber sie locken mich. In meinem Kopf, in meinem Körper wiegt und wogt es. Mal bin ich die klagende Klarinette. Mal das sanfte Klavier. Die Musik zieht mich mit sich fort. Ohne das Klavier wäre es zu viel. So ist es perfekt. Eine Liebeserklärung, eine traurige. Voller Sehnsucht, aber nicht süßlich. Obwohl meine Augen geschlossen sind, ist die Müdigkeit des Tages verflogen. Am Ende des Stückes blitzt ein Hoffnungsstreifen.

Nach dem Konzert plaudern wir mit unseren Freunden noch bei einem Glas Wein, bevor wir uns wieder auf den Weg in den Alltag machen. Noch bevor wir den Ausgang erreichen, schlägt die Realität zu wie eine weit ausgeholte Backpfeife. An der Tür hängt der B-Plan-Entwurf für die Gewerbehallen. Nach der Bauphase wird sicher kein Platz bleiben für alternative Kunstprojekte. Ich traue mich nicht auf den Plan zu schauen und dränge nach draußen in die Kälte.

Die Straße draußen vor der Halle ist noch ruhiger geworden. Der Jodel-Jauchzer ist verstummt. Ich nehme Rs Hand und er steckt sie behutsam in seine mollig warme Jackentasche.

„Es war schön“, sagt er, „ein geklauter Mittwochabend.“

„Ja, es war richtig schön“, antworte ich und versuche die Musik noch etwas in mir nachhallen zu lassen.

Wir schlendern zu U-Bahn. Zwischenzeit. Noch versuche ich die Realität in den Randschatten meines Bewusstseins zu drängen. Das ändert sich, als wir in den grell beleuchteten U-Bahn-Schacht eintauchen. Die Uhr zeigt 22.23 Uhr. R hat morgen früh Winterdienst. 4:30 Uhr aufstehen. Ein jämmerlich aussehender Mann mit Krücke und Pappschild geht von einem Wartenden zum nächsten.

„Bitte.“ „Please.“

Die Energie, die ich während es Konzerts aufgeladen habe, zerplatzt wie eine Luftblase. Diesmal nicht. Ich kann nicht. Ich schaue wie die anderen auf meine Fußspitzen, hoffe, dass er vorbeigeht und schäme mich. Dann knallt hinter uns eine Bierflasche auf die Fliesen. Ein Mann flucht. Jammert. Ich schaue an R vorbei. Riskiere heimlich ein Auge. Will nicht aufdringlich glotzen und muss doch hinsehen. Es ist ein junger Mann. Hibbelig, wie ein Junkie. Aber er sammelt die Scherben auf und trägt sie zum Mülleimer. Geht noch ein paarmal zurück, um wirklich alle Glasreste zu finden. Nur gegen die klebrige Lache Bier kann er nichts machen. Die wird eintrocknen und schmatzende Geräusche machen, wenn die Menschen über sie hinweg eilen. Den Staub und Dreck von den Schuhen einfangen, wie ein Magnet. Und morgen werden die Passanten nur sehen, dass hier so ein Assi ein Bier verschüttet hat, oder Schlimmeres und nicht seine Mühe sehen und seine Verzweiflung.

Dann kommt die Bahn. Wir steigen ein und setzen uns zu einer jungen Frau in einen Vierersitz. Als das Rattern der anfahrenden Bahn leiser und gleichmäßiger wird, höre ich ein Akkordeon. Ich warte auf das Humpta, Humpta des elektronischen Verstärkers. Wappne mich gegen die aufgesetzte Fröhlichkeit, mit der die neuen Musiker-Banden Geld sammeln, für einen halben Evergreen aus dem Lautsprecher und ein bisschen schiefes Geklimper. Die echten Straßenmusiker haben sie längst verdrängt. Aber die Akkordeonklänge bleiben leise. Sie dauern länger als eine Station. Länger als eine zweite. Sie klingen unaufdringlich. Fast privat. Nach Urlaub in Frankreich. Sie zaubern ein Lächeln auf die Gesichter. Auch auf meins.

Ich brauche dringend mehr Musik in meinem Leben.