Unsere kleine Ferienwohnung unterm Dach ist gemütlich. Das Bett bequem und der angekündigte Regentag nach einer Woche Schönwetter, Radtouren und Besichtigungen durchaus willkommen. Endlich einmal nichts tun. Auch nichts Schönes. Einfach gar nichts. Herrlich. Ich kann mich kaum von meinem Buch losreißen. Inneres Land von Maria Barbal. Das lag auf dem geben-nehmen-Tisch im Hausflur und ich konnte nicht widerstehen, obwohl ich noch nicht einmal zur Hälfte mit meiner mitgebrachten Lektüre durch bin und unser Urlaub in zwei Tagen zu Ende ist.
R schlägt die Bettdecke zur Seite und steht auf. Ich blättere vor und schaue nach, wann das Kapitel zu Ende ist. „Nur noch zwei Seiten“, sage ich.
Ich höre ihn in der kleinen Küche werkeln und verschlinge die nächste Seite. Da klingelt mein Handy.
„Hallo Anja, entschuldige, dass ich dich im Urlaub störe, kannst du mal kurz …“
Ich kann. Unser Praktikant muss den ganzen Laden alleine am Laufen halten und das macht er super. Ich fahre den Arbeitsrechner hoch und suche das Gewünschte heraus. Dank unserer neuen Cloud habe ich überall und immer Zugriff auf mein Büro, solange das W-Lan funktioniert. Und es funktioniert hier oben unterm Dach einwandfrei. Ich verschicke die Unterlagen, checke mein Postfach und schreibe noch schnell eine E-Mail. Inzwischen hat R den Tisch gedeckt, Tee gekocht, Brot geschnitten und Tomaten gewaschen. Ich setze mich in Nachthemd und Wollsocken zu ihm.
„Die Regenfront verschiebt sich auf morgen. Wir können also doch etwas unternehmen“, sagt er und als Beweis scheint von draußen fröhlich die Sonne auf unseren Frühstückstisch. R legt das Handy zur Seite, beißt in sein Marmeladenbrot und vertieft sich dann in die Wanderkarte.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist schon fast zwölf und ich bekomme schlechte Laune. Wäre ich doch bloß früher aufgestanden. Hätte ich doch bloß nicht mit dem neuen Buch begonnen. Jetzt werde ich mit zwei angefangenen Büchern nachhause fahren und wer weiß wann und ob ich sie je zu Ende lese werden, bei all den Abendmeetings, die in den nächsten Wochen anstehen. Das Exposé für mein Buchprojekt muss ich auch noch fertig schreiben und Yoga habe ich auch nicht gemacht. Ich höre die Uhr ticken. Sekunde um Sekunde. Die zwei verbleibenden Urlaubstage schmelzen wie die Butter auf unserem Frühstückstisch.
Bei Sonnenschein nichts zu tun, ist keine Option. Vielleicht wenn es heiß wäre. Wenn es eine Mitte-August-30-Grad-im-Schatten-Sonne wäre, aber nicht Anfang September, wo jeder Sonnentag kostbar ist, und vielleicht der letzte sein könnte, vor einem kalten und trüben Herbst. Und vor allem ist Nichtstun keine Option, wenn wir nur noch zwei Tage hier am Schaalsee sind und so Vieles noch nicht gesehen haben.
Wir einigen uns auf eine Radtour nach Zarrentin. Da wir es wahrscheinlich nicht mehr zu den größeren Mooren im Norden schaffen, wollen wir wenigstens noch den Moorerlebnispfad am Pahlhuus mitnehmen. Wir radeln den Holperweg entlang, den wir inzwischen schon so gut kennen, vorbei am Eierhäuschen, das mit Kartoffeln, Marmelade und Eiern gefüllt ist und in dem ein Kasse des Vertrauens steht.
„Lass uns auf dem Rückweg noch einen Beutel Kartoffeln mitnehmen, sage ich, „Für zuhause.“
R nickt. Seine neue Fahrradtasche, die wir in Schwerin gekauft haben, hängt am Gepäckträger, bereit für jede Herausforderung.
An der Landstraße führt der Fahrradweg hinauf und hinunter und wieder hinauf. Inzwischen weiß ich, wo ich wie fest in die Pedale treten muss, damit der Schwung mich entspannt den nächsten Eiszeit-geprägten Hügel hinaufträgt. Durch den Gegenverkehr müssen wir hintereinander fahren. Unterhalten nicht möglich und schon rattert es in meinem Hirn. Ich denke an die Arbeitstermine und die offenen Punkte auf meiner to-do-Liste. STOP! Urlaub. Es funktioniert. Doch das Radfahren kurbelt meine Gedanken an, so dass jetzt Sätze über Sätze durch meinen Kopf purzeln. Gute Sätze. Kraftvolle Sätze. Lustige Sätze. Anfänge von neuen Geschichten, von alten Geschichten, die nie geschrieben wurden, von Kapiteln, vor denen ich mich bisher gedrückt habe. Sätze von denen ich genau weiß, dass ich sie so nie wieder denken und formulieren werde. Es ist zum Heulen. Ich versuche sie zu wiederholen, wieder und wieder, damit sie sich in mein Gehirn einbrennen. Ein Kabel wäre gut, direkt aus meinem Kopf zu einer Festplatte, damit all die Sätze und Gedanken nicht verloren gehen. Vielleicht sollte ich mir ein Diktiergerät anzuschaffen. Aber irgendwie gefällt mir die Idee dann doch nicht, meine Radtouren zukünftig als wirr vor sich hin brabbelnde Alte zu verbringen. Und bevor mir etwas Neues durch den Kopf flitzen kann, erreichen wir Zarrentin.
Wir schließen die Fahrräder am Strandbad ab und beschließen erst einmal in der kleinen Strandbar einen Kaffee zu trinken, doch die hat zu. Also gehen wir los. Vorbei am Sportplatz und durch ein Wäldchen. Auf meinem Handy sind drei zunehmend frustrierter klingende Nachrichten aus dem Büro. Ich rufe den Praktikanten an. R bleibt stehen, genervt von meinem Telefonieren, denn eigentlich sind wir gerade in einem wirklich idyllischen Erlenbruch. Die Vögel zwitschern, zumindest würden sie das, wenn ich nicht so einen Lärm machen würde. Ich habe ein schlechtes Gewissen R gegenüber und dem Praktikanten gegenüber. Die Vögel müssen ohne meine Entschuldigung klar kommen, um die kann ich mich nicht auch noch kümmern. Nach meinem Telefonat führt uns der Weg an einem kleinen Stich des Schaalsees entlang, den wir über eine schmale Holzbrücke queren. R hält mich am Arm und deutet zu einem Teichrosenblatt auf dem sich eine Blindschleiche sonnt. Schwupp gleitet sie über den Rand hinein ins Wasser. Das Blatt wippt noch einen Moment nach. Diesmal bin ich aber nicht Schuld, dass das Tier sich gestört fühlt. Als wir ein paar Meter weiter zu einer Badestelle kommen, beschließen wir es der Blindschleiche nachzumachen. Auf dem Steg liegt ein junges Pärchen und schaut auf den See. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen. Wir schlüpfen in die Badesachen und waten ins Wasser. Es wird und wird nicht tiefer. Ich rechne damit, dass R wieder umkehrt. Er hasst kaltes Wasser und ich hasse es, nicht einfach los schwimmen zu können, aber wenn uns dieser Tag noch einmal Sonne schenkt, dann gibt es jetzt kein zurück. Als wir gefühlt bis zur Mitte des Sees gewatet sind und endlich schwimmen können, ist es einfach nur schön.
Zurück wandern wir über den Moorlehrpfad auf einem Bohlenweg. Es federt angenehm unter den Füßen. Diese Landschaft ist wirklich etwas ganz Besonderes. Ob die Menschen, die hier aufwachsen, verwurzelter mit ihrer Heimat sind, als ich es in meiner Jugend war? Ein Hochhauskind, in einem Ort, der jahrelang auf den fehlenden Einwohner wartete, um sich endlich Stadt nennen zu dürfen. Ich glaube schon.
Als wir zu unseren Rädern zurückkehren, herrscht Hochbetrieb am Strandbad. Auf dem Parkplatz stehen Autos aus mindestens drei verschiedenen Landkreisen. Auf dem Sportplatz trainieren die Fußballspieler:innen von morgen. Drei Gruppen unterschiedlichen Alters. Vorne, wo wir entlang laufen, die Allerkleinsten. Denen die gelben Laibchen fast bis zum Knöchel reichen. Sie sollen im Slalom um die ausgelegten Hütchen laufen und wuseln alle durcheinander. Erst als der Trainer es ihnen vormacht, kommt Struktur in die Bewegung. Die Muttis und auch erstaunlich viele Väter stehen hinter der Absperrung, an der ein pfiffiger Trainer Zettel aufgehängt hat, auf denen elternfreie Zone steht. Das hätte ich mir bei den Fußballturnieren meines Sohnes auch gewünscht. Bei jedem Spiel mutierte die Hälfte der Väter zu Co-Trainern. Von allen Seiten wurden lautstark die unterschiedlichsten Kommandos gebrüllt und es fehlte nicht viel, dann wären die erwachsenen Männer auf das Feld gestürmt und hätten den Ball selbst gekickt.
Wir beschließen noch ein bisschen am Strandbad zu bleiben. Auch hier wuselt alles durcheinander. Ein paar ältere Semester schwimmen in geblümten Badeanzügen ein paar Runden im See. Am Steg sammelt ein DLRG-Trainer seine Schützlinge. Die Jungen und Mädchen springen mit Trainingshose und T-Shirt ins Wasser und schwimmen ihre Bahnen vor dem Steg. Brust und Rücken, in kleinen schnatternden Grüppchen. Auf dem Spielplatz vor der geschlossenen Strandbar spielen die Geschwister der Fußball- und Schwimmkinder. Ein Opa buddelt mit seinem Enkel im Sand. Wir setzen uns auf eine Bank und schauen dem Treiben zu. Vor uns sitzen drei Mädels so um die zwölf. Sie singen. Die eine stellt sich auf die Bank, wackelt mit dem Po und tanzt irgendeine Choreo aus einem Musikvideo nach. Als sie meinen Blick bemerkt, legt sie noch eine Schippe drauf, fängt dann aber an zu kichern und klettert von der Bank. Die drei grölen: „Zitroneneis und Schokolade.“ Sie schnappen sich ihre Räder und radeln barfuß in Richtung Stadt.
Zwei Teenagermädchen kommen mit einem E-Scooter über die Wiese gefahren. In der Hand zwei riesige Pizzakartons. Sie werden schon sehnsüchtig von einer Gruppe Jugendlicher erwartet.
Die Sonne senkt sich langsam über den See. Es wird kühler. Der Tag geht zu Ende. Der Urlaub geht zu Ende und der Sommer auch. Mir wird ganz melancholisch ums Herz. Die ersten Kleinkinder werden in Bollerwagen gepackt, oder auf Fahrradsitzen angeschnallt.
Ich will mich noch nicht losreißen. Will nicht zurück in die Ferienwohnung. Zurück in den Alltag. Dabei gibt es in Potsdam auch schöne Orte am Wasser und Pizzerien gibt es auch.
Bevor es dunkel wird, brechen wir auf.
„Du“, sage ich zu R, als wir entspannt nebeneinander her radeln, „Nächsten Mittwoch lasse ich das Kochen ausfallen, kaufe mir eine Pizza und setze mich an den See.“
„Bin ich auch eingeladen?“, fragt er.
Ich lache und nicke. „Dann haben wir jetzt ein Date. Ein Alltag-du-kannst-mich-mal-Date.“
Schließlich ist für die Zarrentiner heute ja auch ein ganz normaler Mittwoch. Und plötzlich fühlt sich alles viel leichter an. Und damit nichts dazwischen kommt, trage ich unser Alltag-du-kannst-mich-mal-Date gleich in meinen Kalender, als wir zurück in die Ferienwohnung kommen. Mittwoch um 19 Uhr. Dann überlege ich es mir anders und ändere auf 17 Uhr. Pizza am See mit drei Ausrufungszeichen.